Der Übergang von der Familie in die Kita ist für Kinder und Eltern gleichermaßen ein bedeutsamer Lebensereignis. Das Berliner Eingewöhnungsmodell hat sich seit den 1980er Jahren als bewährte Methode etabliert, um diesen Übergang sanft und bedürfnisorientiert zu gestalten.
Was ist das Berliner Eingewöhnungsmodell?
Entwicklung und wissenschaftliche Grundlage
Das Berliner Eingewöhnungsmodell wurde in den 1980er Jahren am Berliner INFANS Institut für angewandte Sozialisationsforschung/Frühe Kindheit e.V. von den Pädagogen Hans-Joachim Laewen, Beate Andres und Éva Hédervari-Heller entwickelt. Die Entstehung basierte auf einer wichtigen Forschungserkenntnis: Kinder, die ohne elternbegleitete Eingewöhnung in die Kita kamen, waren in den ersten sieben Kita-Monaten vier Mal länger krank, zeigten irritiertes Bindungsverhalten und einen geringeren Entwicklungsstand. Das Modell stützt sich auf die Bindungstheorie von John Bowlby und berücksichtigt die Wichtigkeit des Bindungsverhaltens für die weitere Entwicklung des Kindes. Die theoretischen Grundlagen zeigen, dass Kinder ab dem fünften Lebensmonat bis zum dritten Lebensjahr in einer besonders sensiblen Phase sind, in der Trennungen von den Bezugspersonen starken Stress auslösen können.
Grundprinzipien des Modells
Das Berliner Eingewöhnungsmodell ruht auf zwei zentralen Säulen: Bezugspersonen und Behutsamkeit. Diese Prinzipien sorgen dafür, dass das Kind während der Anwesenheit der Bezugsperson eine tragfähige Beziehung zur Fachkraft aufbauen kann, die bindungsähnliche Eigenschaften hat und dem Kind Sicherheit bietet. Das grundlegende Ziel der Eingewöhnung besteht darin, dass das Kind die Kita-Fachkraft als verlässliche Trostspenderin akzeptiert und sich dauerhaft in der neuen Umgebung wohlfühlt. Das Gefühl der Sicherheit durch eine gute Beziehung zur Fachkraft ist die Grundlage für gelingende Bildungsprozesse und einen gesunden Start in den neuen Lebensabschnitt.
Die fünf Phasen der Kita-Eingewöhnung
Phase 1: Informationsphase
Die erste Phase dient der umfassenden Vorbereitung und Information. In einem ausführlichen Gespräch werden die Eltern über das Eingewöhnungskonzept informiert und die Bedürfnisse des Kindes besprochen. Dabei werden wichtige Informationen über das Kind gesammelt, wie Einschlafgewohnheiten, Essvorlieben, Allergien oder spezielle Wortbezeichnungen.
Wichtige Inhalte der Informationsphase:
- Erklärung des Eingewöhnungsablaufs
- Sammlung kindbezogener Informationen
- Klärung der Rolle der Eltern während der Eingewöhnung
- Zeitplanung und Erwartungsmanagement
- Aufbau einer ersten Vertrauensbasis zwischen Eltern und Fachkräften
Phase 2: Dreitägige Grundphase
In der zweiten Phase besucht das Kind mit einem Elternteil drei Tage lang die Kita für jeweils ein bis zwei Stunden. Diese Phase ist entscheidend für die ersten Kontakte und das Kennenlernen der neuen Umgebung. Das begleitende Elternteil verhält sich dabei eher passiv und dient als “sicherer Hafen” für das Kind.
Verhalten der Beteiligten:
- Eltern: Verhalten sich passiv, sind aber jederzeit als sichere Basis verfügbar
- Fachkraft: Nimmt behutsam Kontakt zum Kind auf, meist durch Spielangebote
- Kind: Kann die neue Umgebung in Ruhe erkunden und erste Kontakte knüpfen
In diesen ersten drei Tagen findet bewusst kein Trennungsversuch statt. Die Eltern übernehmen noch alle pflegerischen Tätigkeiten wie Wickeln und Füttern, während die Fachkraft die Eltern-Kind-Interaktion beobachtet.
Phase 3: Erster Trennungsversuch
Am vierten Tag (oder am fünften Tag, wenn der vierte Tag ein Montag ist) erfolgt der erste Trennungsversuch. Nach einigen Minuten verabschiedet sich das Elternteil bewusst vom Kind und verlässt den Raum für maximal 30 Minuten, bleibt aber in der Nähe und ist jederzeit erreichbar.
Beobachtung der Kinderreaktion:
- Positive Reaktion: Kind spielt weiter oder lässt sich schnell von der Fachkraft trösten → kürzere Eingewöhnungszeit (ca. 1 Woche)
- Negative Reaktion: Kind weint anhaltend und lässt sich nicht trösten → längere Eingewöhnungszeit (2-3 Wochen)
Die Reaktion des Kindes während dieser ersten Trennung ist entscheidend für die Planung der weiteren Eingewöhnungsphase.
Phase 4: Stabilisierungsphase
Je nach Reaktion des Kindes beim ersten Trennungsversuch wird die Stabilisierungsphase unterschiedlich gestaltet:
Bei positiver Reaktion (kürzere Eingewöhnung):
- Am 5. und 6. Tag langsame Ausdehnung der Trennungszeiten
- Erste Beteiligung der Fachkraft beim Füttern und Wickeln
- Eltern bleiben weiterhin in der Kita, aber nicht mehr direkt beim Kind
Bei negativer Reaktion (längere Eingewöhnung):
- Stabilisierung der Beziehung zur Bezugsperson
- Erneuter Trennungsversuch frühestens am 7. Tag
- Schrittweise Verlängerung der Trennungszeiten je nach Kinderreaktion
In dieser Phase übernimmt die Fachkraft zunehmend die Betreuung des Kindes und baut eine intensive Beziehung auf.
Phase 5: Schlussphase
Die Schlussphase beginnt, wenn das Kind die Fachkraft als verlässliche Bezugsperson akzeptiert hat. Das Elternteil hält sich nicht mehr in der Kita auf, ist aber jederzeit telefonisch erreichbar. Merkmale einer erfolgreichen Eingewöhnung:
- Das Kind lässt sich von der Fachkraft trösten
- Es spielt in grundsätzlich guter Stimmung
- Es findet friedlich in den Schlaf
- Es zeigt Interesse an den Angeboten der Kita
Nach dem infans-Konzept können Kinder ab dem fünften Tag auch bereits in der Einrichtung schlafen, allerdings werden sie von der Bezugsperson in Begleitung des Elternteils hingelegt.

Dauer und individuelle Anpassung
Zeitlicher Rahmen
Die Dauer der Eingewöhnung nach dem Berliner Modell variiert je nach Kind und Umständen. Bei sicher gebundenen Kindern dauert die Eingewöhnung zwischen zwei und drei Wochen, während unsicher gebundene Kinder ungefähr eine Woche benötigen. Die Eingewöhnungszeit sollte individuell angepasst sein, aber niemals drei Tage unterschreiten.
Einflussfaktoren auf die Dauer:
- Alter und Entwicklungsstand des Kindes
- Bindungsqualität zwischen Kind und Eltern
- Temperament und Persönlichkeit des Kindes
- Bisherige Erfahrungen mit Fremdbetreuung
- Familiäre Situation und Stress der Eltern
Individuelle Bedürfnisse berücksichtigen
Das Berliner Modell ist besonders bedürfnisorientiert und lässt sich individuell an jedes Kind anpassen. Die Entscheidung über den Zeitpunkt der Trennung und das weitere Vorgehen wird an die Situation und Bedingungen des Kindes angepasst.
Anpassungsmöglichkeiten:
- Verlängerung der Grundphase bei besonders sensiblen Kindern
- Anpassung der Trennungszeiten je nach Kinderreaktion
- Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse (Allergien, Schlafgewohnheiten)
- Flexible Gestaltung der Übergänge zwischen den Phasen

Praktische Tipps für Eltern
Vorbereitung zu Hause
Schon vor der Eingewöhnung können Eltern wichtige Vorbereitungen treffen:
- Gespräche über die Kita führen, ohne zu viel Druck aufzubauen
- Bilderbücher zum Thema Kita gemeinsam anschauen
- Kindergartenrucksack gemeinsam aussuchen
- Regelmäßige Kontakte zu anderen Kindern ermöglichen
- Kurze Trennungsübungen zu Hause durchführen
Verhalten während der Eingewöhnung
Für eine erfolgreiche Eingewöhnung sollten Eltern:
- Sich passiv verhalten und das Kind nicht drängen
- Dem Kind volle Aufmerksamkeit schenken und als sicherer Hafen fungieren
- Positive Einstellung zur Kita zeigen und eigene Ängste nicht übertragen
- Feste Verabschiedungsrituale entwickeln
- Vertrauen in die Fachkräfte zeigen
- Ausreichend Zeit für die Eingewöhnung einplanen
Praktische Ausrüstung
Wichtige Gegenstände für den Kita-Start:
- Wechselkleidung und Regenausrüstung
- Hausschuhe und saisonale Kleidung
- Lieblingskuscheltier oder Schnuller als Trostspender
- Familienfotobuch für emotionale Sicherheit
- Trinkflasche und eventuell Brotdose
- Alle Gegenstände mit Namensetiketten versehen
Vorteile des Berliner Modells
Wissenschaftlich belegte Erfolge
Das Berliner Eingewöhnungsmodell hat sich in der Praxis bewährt und zeigt nachweisbare Vorteile:
- Reduzierte Krankheitszeiten in den ersten Kita-Monaten
- Weniger Ängste und Stress bei den Kindern
- Bessere Nutzung der Kita-Angebote
- Stabilere Bindungen zu den Fachkräften
- Positive Auswirkungen auf die Entwicklung
Vorteile für alle Beteiligten
Für das Kind:
- Sanfter, stressfreier Übergang
- Aufbau von Vertrauen und Sicherheit
- Behutsame Gewöhnung an neue Umgebung
- Respektierung des individuellen Tempos
Für die Eltern:
- Einblick in den Kita-Alltag
- Aufbau von Vertrauen zur Einrichtung
- Grundlage für spätere Erziehungspartnerschaft
- Strukturierter, planbarer Ablauf
für die Fachkräfte:
- Lernen des Kindes und der Familie kennen
- Aufbau einer tragfähigen Beziehung
- Bessere Einschätzung der Bedürfnisse
- Professionelle Gestaltung des Übergangs
Herausforderungen und Lösungsansätze
Häufige Probleme
Typische Schwierigkeiten während der Eingewöhnung:
- Anhaltende Trennungsangst des Kindes
- Übertragung elterlicher Ängste auf das Kind
- Zeitlicher Druck durch Berufstätigkeit
- Unterschiedliche Erwartungen zwischen Eltern und Fachkräften
- Rückschritte nach anfänglichen Erfolgen
Lösungsstrategien
Bei Problemen während der Eingewöhnung:
- Offene Kommunikation zwischen allen Beteiligten
- Anpassung der Trennungszeiten an das Kindertempo
- Professionelle Unterstützung durch Fachkräfte
- Geduld und Verständnis für Rückschläge
- Eventuell Wechsel der Bezugsperson oder längere Eingewöhnungszeit
Wichtige Grundsätze:
- Niemals auf eine Eingewöhnungszeit verzichten
- Individuelle Anpassung an jedes Kind
- Kontinuierliche Reflexion und Anpassung des Vorgehens
- Enge Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften

Kita-Anwendung in der Schweiz
Adaption und Weiterentwicklung
In der Schweiz wird das Berliner Modell in vielen Kitas angewendet und an die spezifischen Bedürfnisse angepasst. Die Stadt Zürich hat beispielsweise ein eigenes Stadtzürcher Eingewöhnungsmodell entwickelt, das auf dem Berliner Modell basiert, aber flexiblere Anpassungen ermöglicht.
Besonderheiten der Schweizer Anwendung:
- Berücksichtigung der Teilzeitbetreuung
- Intensive Elternzusammenarbeit
- Flexible Gestaltung der Eingewöhnungsphasen
- Anpassung an kulturelle Vielfalt
Qualitätsstandards
Die Schweizer Kitas orientieren sich an hohen Qualitätsstandards, wobei das Berliner Modell als bewährte Methode gilt. Organisationen wie kibesuisse empfehlen strukturierte Eingewöhnungskonzepte und unterstützen die Weiterentwicklung der Qualität in der familienergänzenden Kinderbetreuung.
Weiterentwicklungen und Alternativen
Vergleich mit anderen Modellen
Neben dem Berliner Modell existieren weitere Eingewöhnungsmodelle wie das Münchener Modell oder das Tübinger Modell. Der Hauptunterschied liegt in der Perspektive: Während das Berliner Modell das Kind eher als passiven Bestandteil sieht (“das Kind wird eingewöhnt”), betrachtet das Münchener Modell das Kind als aktiven Treiber des Prozesses (“das Kind gewöhnt sich ein”).
Aktuelle Entwicklungen
Moderne Ansätze berücksichtigen:
- Partizipative Eingewöhnung mit stärkerer Kindmitbestimmung
- Digitale Dokumentation des Eingewöhnungsprozesses
- Kulturelle Sensibilität bei multikulturellen Familien
- Nachhaltige Gestaltung der Eingewöhnungsumgebung
Fazit und Ausblick
Das Berliner Eingewöhnungsmodell hat sich über Jahrzehnte als erfolgreiche Methode für den sanften Übergang von der Familie in die Kita bewährt. Seine wissenschaftliche Fundierung, die praktische Umsetzbarkeit und die individuellen Anpassungsmöglichkeiten machen es zu einem wertvollen Instrument für Fachkräfte, Eltern und Kinder.
Erfolgsfaktoren für eine gelungene Eingewöhnung:
- Ausreichende Zeitplanung und Geduld
- Vertrauen zwischen allen Beteiligten
- Individuelle Anpassung an jedes Kind
- Professionelle Begleitung durch Fachkräfte
- Offene Kommunikation und Reflexion
Die kontinuierliche Weiterentwicklung des Modells, angepasst an gesellschaftliche Veränderungen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse, wird auch in Zukunft dazu beitragen, dass Kinder einen positiven Start in ihre Kita-Zeit erleben und davon langfristig profitieren. Ein erfolgreich durchgeführtes Berliner Eingewöhnungsmodell legt den Grundstein für positive Bildungserfahrungen, soziale Entwicklung und emotionale Stabilität der Kinder in der familienergänzenden Betreuung. Es bleibt damit ein unverzichtbarer Baustein für qualitativ hochwertige Kinderbetreuung.
Mehr dazu finden Sie auf dem Blog von Krippefinden.ch – mit vielen Tipps rund um Elternschaft und Kita-Alltag.
Mit über 3500 gelisteten Kitas in der ganzen Schweiz macht unsere Plattform die Suche leicht und hilft Ihnen, die ideale Kita für Ihr Kind in Ihrer Nähe und mit gutem Gefühl zu finden.
Folgen Sie uns auf LinkedIn, um unsere Neuigkeiten, Artikel und Tipps rund um die frühkindliche Bildung zu entdecken.